PROTESTTAG -WARUM STREIKEN DIE APOTHEKEN?

Ein normaler Arbeitstag

Seit Jahren sieht so ein ganz normaler Arbeitstag aus: Ich komme ca. eine halbe Stunde früher zur Arbeit, um schnell noch vor Öffnung der Apotheke bei vier verschiedenen Großhändlern die aktuell etwa 300 nicht lieferbaren Arzneimittel abzufragen. Gleich früh morgens ist die Chance am größten, etwas zu ergattern. Sobald die ersten Kund:innen hereinkommen und das Telefon an ist, ist dafür zu wenig Zeit. Wir sind “gut” besetzt, es sind nur zwei Kolleg:innen krank. Eine Mitarbeiterin verbucht über 20 Kisten Ware, drei Kolleginnen stehen für den Verkauf zur Verfügung. Es warten schon zwei Personen vor der Apotheke, in wenigen Minuten sind alle drei Kassen durchgehend besetzt. Das erste Rezept: ein Antibiotikum gegen entzündete Wunden – Nicht lieferbar! Am Telefon liegen noch zwei offene Vorgänge von gestern, zu denen noch ein Arzt erreicht werden muss, eine Online-Vorbestellung klingelt und ein Patient ruft wegen einer Rückfrage zu seiner Lieferung an. Ach ja, um 9:00 kommt noch jemand zum Kompressionsstrümpfe anmessen. Zwischendurch eine Großbestellung vom Pflegedienst und eine Rezeptur für ein Kind – die Verordnung ist neu: Wir müssen Zusammensetzung und Dosierung überprüfen, dokumentieren und eine Herstellungsvorschrift erstellen, die Ausgangsstoffe bestellen und auch diese vor Verarbeitung im Labor auf Identität prüfen. Dann kann die PTA erst mit der Herstellung beginnen. Macht nichts, es liegen sowieso noch drei weitere Rezepturaufträge vor, die noch hergestellt werden müssen.

Nach zwei Stunden ist für uns vier aus der Frühschicht Frühstückspause, wir alle haben mittlerweile je zwei, drei wichtige Sachen im Kopf, die bis nach der Pause nicht vergessen werden dürfen. – Das muss aber erstmal warten, die Kund:innen stehen bis nach draußen an. Einer möchte eine Chemikalie kaufen, für die die Abgabebestimmungen gemäß verschiedenen Gesetzen erst geprüft werden muss. Einer braucht ein Inhaliergerät für sein hustendes Kind, die Krankenkasse erlaubt aber keine Abgabe ohne Antrag auf Genehmigung! Einer möchte nur dreimal die Umschau und Kalender für seine Nachbarn. Eine wurde aus dem Krankenhaus entlassen und benötigt eine ausführliche Erklärung für ihre Neueinstellung – eigentlich hätte sie gern mal eine Medikationsanalyse. Eine Privatpatientin möchte eine Direktabrechnung zwischen uns und ihrer Krankenkasse beantragen. Eine Arztpraxis ruft an und benötigt Sprechstundenbedarf, schnellstmöglich auszuliefern! Jemand ruft an, um sich über eine Grippeimpfung zu informieren.

In der Zwischenzeit liegt ein großer Stapel ungeöffneter Post auf dem Schreibtisch: Werbung, Rechnungen, Personalangelegenheiten, Retaxationsschreiben. Apropos Personalangelegenheiten; wir müssen ja diese Woche noch den Urlaubsplan für das nächste Jahr vorbereiten, und den Dienstplan für Dezember fertig machen. Und ich sollte noch die Filiale zurückrufen, jemand muss dort übernächsten Samstag einspringen, da ein Kollege krank geworden ist. Okay, Retaxationsschreiben, was wird diesmal gekürzt? 300 € Zahlungsverweigerung für ein Rezept von Anfang des Jahres, weil der Arztname auf dem Klinik-Rezept vergessen wurde. Ein paar Bagatellfehler, eine Absetzung über 130 €, weil für ein Hilfsmittel nur die Genehmigungsnummer eines Kostenvoranschlages auf dem Rezept stand, aber die Genehmigung nicht angeheftet wurde. Ich suche schnell die Genehmigung, um sie nachzureichen und Einspruch einzulegen. Auf dem Weg zum Kostenvoranschlagsordner bemerke ich 12 ungelesene Mails: Vorbestellungen von Patient:innen und der Palliativversorgung! Schnell bestellen, damit es heute Nachmittag noch mit der Ware mitkommt! Das Rezept in der Vorbestellung ist unleserlich abfotografiert. Vom nächsten Pflegedienst kommt ein Stapel Rezepte rein, die Rolle im Etikettendrucker muss erst gewechselt werden. Es ist mittags, die nächsten 20-30 Kisten Ware kommen an, die Ware für das Lager und die Kunden werden verräumt, mit dem Fahrer muss noch abgeklärt werden, wann etwas in den Nachbarort geliefert werden kann. Eine Apothekerin impft am Nachmittag, ein PTA macht die dazugehörige Dokumentation. Vielleicht schaffe ich zwischendurch noch, den Einspruch fertig zu machen, und die restlichen Retaxationen in unsere interne Doku einzupflegen, um das von der To-Do-Liste streichen zu können.Mittlerweile haben sich schon wieder über 150 Rezepte gesammelt, die noch kontrolliert werden müssen – auf Formfehler und pharmazeutische Richtigkeit. Ende der Woche werden die Rezepte zur Abrechnung abgeholt, also auch nochmal alle hochpreisigen Rezepte der letzten zwei Wochen separat sorgfältig überprüfen: Unbedingt noch dem Fahrer Bescheid geben, dass er bis dahin noch zur Klinik zum Gegenzeichnen fährt – nicht, dass 12000 € wegen fehlendem Arztnamen nicht vergütet werden! Ein Kunde kommt mit einem Entlassrezept, das verordnete Arzneimittel ist nicht im Handel – dürfen wir die nächstgrößere Packung abgeben? Bei welcher Krankenkasse ist er? BKK – Schade, für diese ist die Verordnung somit ungültig – er braucht das Medikament aber dringend! An allen anderen Kassen ist parallel zu hören: “Ihr Medikament ist leider nicht lieferbar!” oder es wird erklärt, warum die Packung “schon wieder anders aussieht”. Das letzte Mal war sie aber blau! Für ein Krebsmedikament ist der Patentschutz ausgelaufen, der Patient nimmt es seit Jahren ausschließlich von der Originalfirma – der Arzt hat auch immer das Austauschverbot angekreuzt: Da nun viel günstigere Nachahmerpräparate im Handel sind, hat die Krankenkasse die Preisgrenze gesenkt, der Originalhersteller aber nicht den Preis: Der Patient müsste 7000 € dafür bezahlen, um beim gleichen Präparat bleiben zu können. Wir checken die Zusammensetzung aller Generika und versuchen ihm wenigstens ein Produkt mit identischer Hilfsstoffzusammensetzung rauszusuchen, um ihn bei der Umgewöhnung zu beruhigen. Ein Klinikrezept nur mit Wirkstoffverordnungen wird eingereicht, unter anderem L-Thyroxin. Ist keine konkrete Firma genannt, ist das Rezept in diesem Fall ungültig und wird von der Krankenkasse nicht bezahlt. Es reicht nicht, mit Patienten oder Arzt zu besprechen, welche Firma gemeint ist, es muss schriftlich vom Arzt geändert werden. Unser Fahrer darf nochmal zu einer anderen Klinik am anderen Ende der Stadt fahren, um die Änderung vom Arzt gegenzeichnen zu lassen, denn die Klinikambulanz kann grundsätzlich keine Rezepte per Post raus schicken. Inzwischen ist auch die Nachmittagsware da und wird verbucht und verräumt. Schon wieder Telefon: Eine Ärztin benötigt für die kommende Woche unbedingt noch 6 Fläschchen Coronaimpfstoff, die Frist für die umständlich geregelte Bestellung war allerdings gestern. Also nochmal schnell beim Großhandel hinterhertelefonieren, die zuständige Mitarbeiterin dort ist morgen ab 9:00 Uhr erst wieder zu sprechen. Zehn Minuten bevor die letzte Ware bestellt werden kann, benötigt ein Pflegeheim noch dringend Beruhigungsmittel – nichts mit diesem Wirkstoff lieferbar! Schnell noch versuchen, den Arzt zu erreichen, auf welchen Wirkstoff ausgewichen werden kann. Der ist zum Glück direkt vorrätig! Noch schnell die Mails durchschauen, dass nichts übersehen wurde, die letzte Ware kommt, die letzten Bestellungen für den nächsten Tag müssen gesendet werden, ca. 80 Rezepte sind noch zu kontrollieren, die Kassen müssen gezählt werden, und nochmal durchgezählt werden, ob alle Botenlieferungen auch wirklich das Haus verlassen haben. Danach schon mal die To-Do-Liste für den nächsten Tag durchgehen, mit all den Sachen, die für morgen liegen geblieben sind. Eigentlich hätte schon längst ein neuer QM-Prozess zum Thema Hygiene geschrieben, die Monatsangebote noch eingepflegt, die jährlichen Pflichtschulungen unterwiesen, die Eigenrevision durchgeführt, das digitale Schaufenster überarbeitet, die Mitarbeiter über neue Funktionen in der Software geschult und die Firma zur vorgeschriebenen Wartung der Klimaanlage angerufen werden müssen. Bei der Krankenkasse könnte nach zwei Wochen mal nachgefragt werden, ob mittlerweile ein Bearbeitungsstatus zum eingereichten Kostenvoranschlag bekannt ist. Bei verschiedenen Herstellern müssen wir nochmal nachfragen, ob schon Liefertermine für nicht verfügbare Arzneimittel feststehen. Die Medikationsanalyse für die Patientin von heute Vormittag noch vorbereiten, nicht vergessen, dass sie auf drei verschiedenen Formularen unterschreiben muss, damit die Leistung zur Abrechnung anerkannt wird.

Unsere Forderung:


Die alltäglich anfallenden Aufgaben in der Apotheke bedeuten für das gesamte Team immensen, unbezahlten Mehraufwand – statt mehr Vergütung für mehr Aufgaben, wurde allerdings Anfang des Jahres der Zwangsabschlag, den wir an die Krankenkassen abführen müssen, auf 2,00 € pro Packung erhöht. Seit August kann zwar eine Lieferengpasspauschale von 0,60 € pro nicht lieferbarer Packung abgerechnet werden – aber nur bei “einfachem” Austausch gegen ein wirkstoffgleiches Medikament. Die wirklich zeitintensiven Fälle sind aber eben die, in denen kein (!) einfacher Austausch möglich ist, wir über Stunden versuchen müssen Ärzt:innen zu erreichen, gemeinsam kreative Ausweichmöglichkeiten auf komplett andere Arzneimittel zu finden, die neuen Rezepte zu organisieren und den Patient:innen ohne sie zu verunsichern, in Ruhe über die neue Medikation aufklären. Sich jeden Tag neu in unzählige Abrechnungsvorgaben und -Verträge einzulesen, um ja keine Kleinigkeit zu übersehen und einen Fehler zu machen, der zur Zahlungsverweigerung der Krankenkasse führt, und sämtliche weitere bürokratisch-regulatorischen Regelungen halten uns von den eigentlichen Aufgaben ab. Bei zusätzlich chronischem Personalmangel in den meisten Apothekenteams, sind wir mittlerweile einfach müde. Vor allem, weil sich seit dem letzten Protesttag, vor genau einem Jahr, kaum etwas geändert hat – Der Bundesgesundheitsminister äußerte in der öffentlichen Presse, Apotheken würden übertreiben. Lösungen für die Lieferengpasskrise oder das Apothekensterben aus oben beschriebenen Gründen sind nicht in Sicht. Gerade auf dem Land, wo mit noch weniger Personal die vielen zusätzlich belastenden Aufgaben bei weniger Verdienst nahezu unmöglich noch gestemmt werden können, müssen viele Inhaber:innen ihre Türen schließen. Die Protestaktionen sollen darauf aufmerksam machen, wie die wohnortnahe Versorgung aussehen wird, wenn seitens der Politik keine Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Situation geschaffen werden. Deshalb bleibt auch unsere Apotheke am 8.11.2023 geschlossen!

Bildquelle: ABDA

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